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Der Tag nach dem Schnee


VonGaby Oswald- Geschrieben am15 July 2008

Gestern kam alles anders als geplant ...

Um 10.15 Uhr klopft Hanspeter bei mir. Die Schafe seien sehr weit unten. Er zeigt zum Hang: «Siehst du sie?» - Ich: «Nein, wo?» - «Gleich da vorn!» - Ich: «Hmm ...»
Er meint, die Schafe könnten da bleiben, wenn sie nicht noch näher kämen. Ich: «Ok.»
Kaum ist Hanspeter weg, hole ich meinen Feldstecher. Ich suche den Hang ab und finde nichts. Wo hat er die Schafe bloss gesehen? Dann der Schock: Die Schafe sind auf der Kuhweide, also fast vor meiner Tür. Ich kann es nicht glauben. So weit unten! Ich versuche meine Schwester oder meine Mutter zu erreichen, die jede Minute auf einen Besuch eintreffen sollen - beide nehmen nicht ab. Gut! Die werden also nicht mit der 11 Uhr Bahn kommen - und bis 12 Uhr bin ich bestimmt wieder zurück.

Ich gehe zügig mit allen drei Hunden Richtung Schafe. Die Schafe ziehen gleichzeitig zügig den Hang hinauf. Aber nicht dorthin, wo sie sollten - sondern  Richtung Griesstal, in die komplett falsche Richtung. Es regnet und ich versuche, die Schafe mit Nazca zu mir zurück zu treiben. Eine Aue (Mutterschaf) mit kleinem Lamm stellt sich Nazca - dass war's. Nazca ist zu zurückhaltend - sie muss endlich «zupacken» lernen! Der Hang ist steil und feucht. Ich versuche die Schafe zu mir zu locken. Nichts gelingt. In der Zwischenzeit ist es 12.15 Uhr geworden. Ich mache mich auf den Rückweg. Ich werde es am Abend nochmals probieren müssen.

Meine Mutter und Sandra sind bereits in der Hütte. Natürlich sind sie doch mit der 11 Uhr Bahn angekommen. Deshalb mussten sie bis zu mir wandern anstatt das «Subi-Taxi» zu nutzen. Handy-Empfang hatte ich bei den Schafen oben halt keinen. Sandra hat ihre Hose zum Trocknen über den Ofen in der Hütte gelegt und ich leihe ihr eine meiner Hosen aus.
Wir verbringen einen gemütlichen Nachmittag, wobei ich alle fünfzehen Minuten überprüfe, ob die Schafe noch da sind, wo sie nicht sein sollten. Solange sie nicht den Wanderweg ins Griesstal nehmen, können sie bleiben wo sie sind. Um fünf Uhr macht sich mein Besuch auf den Nachhause-Weg.

Ich versuche nochmals, die Schafe zurück zu treiben. Ich schaffe knapp hundert Meter. Der Nebel kommt den Hang herunter und ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Vernünftigerweise begebe ich mich auf den Rückweg.

Zu Hause warten Toni und Klaus auf mich. Toni bringt die letzten Begleitdokumente der Ziegen mit. Klaus hat mir einen «Träsch» mitgebracht. Ich werde ihn ohne Kaffee trinken, habe aber noch nicht probiert. Die beiden teilen sich ein Bier. Ich glaube, sie trauten mir nicht zu, dass ich Kaffee kochen kann. Egal: Wir hatten jedenfalls einen gemütlichen Abend.

Frühmorgens mache ich mich mit allen drei Hunden auf den Weg zu den Schafen. Das Wetter ist super und die Sonne vertreibt die Schatten auf der Sittlisalp. Es ist 5.30 Uhr.

Die Schafe sind unter dem Wasserfall. Mir ist klar, dass ich heute da hoch muss. Von den vielen Hügeln unter der Wand scheint mir einer am flachsten. Ich gehe auf allen Vieren, die Schafe ziehen los Richtung Schneefeld. Ich muss Nazca zu den Schafen schicken - sonst sind die Schafe in Kürze unerreichbar. Ich habe Angst um Nazca, denn hinter dem Schneefeld geht es zwanzig Meter in die Tiefe. Ich kraxle noch schneller auf allen Vieren zu den Schafen hoch. Nazca muss irgendwo hinter den Schafen sein. Sie bewegen sich nicht mehr von mir weg. Nach ewigen Minuten des Wartens bin ich bei den Schafen und sehe Nazca. Meinem Goldschatz geht es gut.

Ich stehe im Schiefer und nehme meinen Salzsack heraus, um die Schafe zu mir zu locken. In dem Moment als die Schafe kommen wird mir klar, dass das eine sehr schlechte Idee war. Fünfzig Schafe, die ihr Mineralsalz wollen - und ich habe keinen sicheren Halt unter meinen Füssen! Ich haue den Viechern auf die Nase und versuche sie wegzuscheuchen. Keine Chance! Ich rutsche etwas, versuche Halt zu finden, ein Schaf klettert auf die anderen drauf und springt fast auf mich. Ich rufe nach meinen Hunden, alle sind sofort da. Ocean legt sich hin und schleicht die Schafe an. Die Schafe weichen ein Stück zurück. Dieser kleine Hund ist einfach der Hammer! Langsam drücke ich die Schafe Schritt für Schritt den steilen Hang hinunter. Zum Glück habe ich alle Hunde mit dabei. Sina und Ocean drücken und setzen sich auch bei der Aue mit dem kleinen Lamm durch - während Nazca abwechselnd links und rechts aufpassen muss, dass die Schafe nicht ausbrechen und wieder den Hang hoch laufen.

Fast unten gönne ich allen eine Pause. Ich trinke einen Schluck und lasse die Schafe weiden. So nebenbei mussten wir auch noch auf ein Schaf warten das den Anschluss verpasst hat. Sina treibt super, aber von Richtungskommandos hat sie keine Ahnung. Das arme Schaf musste einen riesen Umweg machen, aber jetzt ist es wenigstens wieder bei der Herde.

Alle Schafe sind wieder beisammen - aber nun müssen sie noch über den Bach gehen. Natürlich will keines das Erste sein. Ich positioniere die drei Hunde so, dass die Schafe gezwungen sind, über den Bach zu gehen. Ich selber gehe als Erste hinüber. Die Schafe folgen mir zügig - und galoppieren dann an mir vorbei. Ocean und Sina unkontrolliert hinterher. Ocean kann ich noch bremsen, aber Sina wird es bald zu anstengend. Die Schafe ziehen wieder hoch. Viel zu früh! Wir müssen doch noch weiter zurück! Nazca muss die Sache wieder gerade biegen. Wieder steige ich den Hang hinauf, um Nazca zu unterstützen. Oben treibe ich die Schafe über den nächsten Bach und lasse sie dann ziehen.

Die Hunde und ich machen eine gute Stunde Pause. Nazca liegt neben mir - und da bemerke ich, dass sie am Bein blutet. Ich hole die Apotheke aus dem Rucksack heraus und desinfiziere die Wunde. Langsam machen wir uns auf den Nachhause-Weg.

Unten geht's an den Kühen und den Ferienhäusern vorbei. Die Familie beim zweiten Haus fragt, ob ich bei ihnen zu Mittagessen möchte. Ich lehne dankend ab, da ich zuerst Nazca genauer anschauen und verarzten will. Ich sage ihnen, dass ich ein anderes Mal das Angebot gerne annehme.

Zu Hause hole ich den Wundspray für die Schafe. Nazca findet das Geräusch des Sprays schrecklich. Kaum eingesprüht, beginnt sie an der Wunde zu lecken. So entscheide ich mich für einen kleinen Verband. Jetzt habe ich Durst. Ich setze mich hin und trinke eine Cola. Nazca steht auf. Am Boden Bluttropfen. Das glaube ich ja nicht! Von wo kommt denn das jetzt her? Ich schaue die Pfote genauer an. Ein tiefer Schnitt geht quer durch den Ballen. Auch an den anderen Pfoten ist sie wund. Nachdem ich alle vier Pfoten behandelt habe sind Nazcas Pfoten nicht mehr weiss sondern orange vom Wundspray. 
Die zerschnittene Pfote binde ich ein, da sie schon wieder daran leckt. Ich kann mein Wissen, das ich mir bei einem Hunde-Nothelferkurs angeeignet habe, nun praktisch einsetzen.

Wir haben uns alle einen ruhigen Nachmittag verdient. Ich lese das erste Mal seit ich auf der Alp bin in einem Buch. Die Hunde schlafen tief und geben den ganzen Nachmittag keinen Mucks mehr von sich.

Am Abend laden mich Astrid und Bruno zu einem Glas Wein ein. Die Schafe ziehen in der Zwischenzeit wieder da hin, wo ich sie heute Morgen geholt hat. Ich hoffe das Spiel wiederholt sich jetzt nicht täglich.